Achtsamkeit in Coaching und Supervision – Impulse aus einer systemischen Perspektive

Achtsamkeit ist längst mehr als ein Trendbegriff. Ihre Wurzeln reichen tief in die buddhistische Lehre hinein, ihre Wege führen durch den Gesundheitsbereich, die Psychotherapie, die Bildungsarbeit – und zunehmend auch in Coaching und Supervision. Doch was hat Achtsamkeit mit systemischem Arbeiten zu tun? Welche Rolle kann sie in der Begleitung von Menschen spielen, die sich selbst und ihre beruflichen Kontexte reflektieren möchten? Und worin liegt der Wert, diese Haltung nicht nur als Methode, sondern als Grundhaltung in die eigene Praxis zu integrieren?

Coaching oder Supervision, Klientin führt gerade eine kleine Achtsamkeitsübung durch

Vom Ursprung zur Praxis

In westlichen Kontexten wurde Achtsamkeit besonders durch die Arbeit von Jon Kabat-Zinn populär. Er übersetzte jahrtausendealte buddhistische Einsichten in einen weltlich orientierten, nicht religiös gebundenen Rahmen und entwickelte das heute weit verbreitete MBSR-Programm (Mindfulness-Based Stress Reduction). Ursprünglich zur Stressbewältigung gedacht, hat sich Achtsamkeit längst als Ressource für Selbstregulation, Klarheit und Kontaktfähigkeit etabliert – auch jenseits von Burnout-Prävention. Eine gute Einführung bietet Kabat-Zinns Buch Gesund durch Meditation (2001).

Im Kern meint Achtsamkeit eine innere Haltung: gegenwärtig sein, ohne zu urteilen. Wahrnehmen, was ist – im Körper, im Geist, in der Umgebung. Und dies mit einer akzeptierenden, freundlichen Grundhaltung. Was zunächst einfach klingt, entpuppt sich im Alltag als anspruchsvolle Übung, denn unser Geist ist geübt in Bewertung, in Eile, in Zielorientierung. Genau hier öffnet Achtsamkeit einen Raum: für Präsenz, für Kontakt, für Veränderung.

Systemisch denken – achtsam handeln

Coaching und Supervision sind Prozesse der Veränderung. Sie begleiten Menschen dabei, neue Perspektiven zu entwickeln, Ressourcen zu aktivieren, Handlungsspielräume zu erweitern. Die systemische Haltung ist dabei geprägt von Wertschätzung, Ressourcenorientierung, Allparteilichkeit und dem Vertrauen in die Selbstorganisationskräfte der Klient*innen. In dieser Haltung steckt bereits ein großes Maß an Achtsamkeit – auch wenn sie nicht so benannt wird.

Stefan Schmidt beschreibt in seinem Beitrag zur „systemischen Perspektive auf Achtsamkeit“ eine spannende Verbindung: Die Praxis der Achtsamkeit lässt sich als eine Art Kybernetik zweiter Ordnung verstehen. Das bedeutet, dass nicht nur beobachtet wird, sondern auch das eigene Beobachten in den Blick kommt – ein inneres Meta-Verstehen der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse. Genau diese Qualität ist auch im systemischen Arbeiten zentral: sich der eigenen Resonanzen bewusst zu sein, Hypothesen als Konstruktionen zu erkennen, nicht zu verschmelzen mit dem Geschehen.

Eine ausführliche Darstellung findest Du in diesem lesenswerten Fachartikel von Stefan Schmidt: Eine systemische Perspektive auf die Praxis der Achtsamkeit (2016).

Achtsamkeit kann dabei unterstützen, diesen inneren Beobachtungsraum zu kultivieren – nicht als Methode, sondern als Haltung. Sie stärkt die Fähigkeit, präsent zu bleiben, gerade wenn Prozesse komplex oder emotional aufgeladen sind. Sie ermöglicht es, auch in herausfordernden Situationen offen, neugierig und akzeptierend zu bleiben. Und sie bietet die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Wahrnehmung immer wieder zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Achtsamkeit als Grundlage von Supervision

In der Supervision – insbesondere in der Fallsupervision – ist Achtsamkeit eine wertvolle Ressource. Nicht nur im Sinne von „Entschleunigung“, sondern als konkrete Haltung im Prozess:

  • Gegenwartsorientierung: statt vorschneller Analysen ein erstes Innehalten, ein genaues Hinspüren: Was ist jetzt gerade da – im Raum, im System, in mir?
  • Akzeptanz und Nicht-Anhaften: Schwierigkeiten, Ambivalenzen oder Widerstände werden nicht sofort gelöst, sondern dürfen erst einmal sein. Das eröffnet neue Möglichkeitsräume.
  • Wahrnehmung des Körpers: Wo spürt man Spannung? Welche somatischen Marker tauchen im Prozess auf? Die Verbindung zum Körper kann hilfreiche Hinweise geben – für Supervisandinnen ebenso wie für Supervisorinnen.
  • Disidentifikation: Aus „Ich bin wütend“ wird „Da ist Wut“. Diese feine Verschiebung verändert den Umgang mit Emotionen und eröffnet einen Raum innerer Freiheit.

Gerade in der Arbeit mit belastenden oder verunsichernden Themen ist Achtsamkeit eine Möglichkeit, mit sich selbst in Kontakt zu bleiben, nicht vorschnell zu reagieren und dem Prozess zu vertrauen. Sie fördert eine innere Haltung, die auch im Sinne der systemischen Idee von Selbstorganisation als „Raumhalterin“ fungieren kann.

Vertiefungsmöglichkeit: Seminar „Ankommen bei mir“

Wer Achtsamkeit nicht nur als Konzept verstehen, sondern in sich selbst verankern möchte, ist herzlich eingeladen zum Seminar „Ankommen bei mir“. Hier geht es um die gelebte Erfahrung von Präsenz, innerer Sammlung und bewusster Selbstwahrnehmung – eingebettet in ein achtsames Gruppensetting mit Raum für persönliche Entwicklung.

Weitere Informationen und Anmeldung 

Wann Achtsamkeit im Coaching hilfreich ist

Auch im Coaching lassen sich achtsamkeitsbasierte Impulse sinnvoll integrieren – vor allem dann, wenn es um Selbstregulation, Entscheidungsfindung oder Krisenbewältigung geht. Einige Beispiele:

  • Zu Beginn eines Coachings: Ein kurzer Moment des Innehaltens, eine Atemübung oder ein achtsamer Check-in helfen, ganz im Kontakt mit sich selbst zu starten.
  • Bei Entscheidungsprozessen: Achtsamkeit unterstützt dabei, nicht nur kognitive Argumente, sondern auch Körperempfindungen und emotionale Resonanzen einzubeziehen.
  • In Übergangs- oder Umbruchphasen: Achtsame Reflexion hilft, Unsicherheit zu halten, innere Klarheit zu entwickeln und sich nicht in alten Mustern zu verlieren.

Übungen und Impulse für die Praxis

Nicht alle Achtsamkeitsübungen passen in jede Situation. Entscheidend ist das Maß an Freiwilligkeit, Offenheit und die Passung zum Setting. Hier einige achtsamkeitsbasierte Formate, die sich gut in Supervision oder Coaching integrieren lassen:

  • Atemfokus (2–3 Minuten): Die Aufmerksamkeit bewusst auf den Atem lenken, ohne ihn zu verändern. Eine einfache Möglichkeit zur Zentrierung.
  • Bodyscan im Sitzen (5–10 Minuten): Nacheinander verschiedene Körperbereiche spüren. Besonders hilfreich zur Erdung in herausfordernden Themen.
  • Achtsames Gehen (z. B. im Supervisionsraum): Jede Bewegung bewusst spüren. Gut geeignet, um Perspektivwechsel zu unterstützen.
  • Achtsames Fragenstellen: „Was nehme ich gerade wahr?“, „Welche Gedanken ziehen vorbei?“, „Was spüre ich im Körper?“ – Fragen, die die Beobachtungsschärfe fördern.
Achtsames reflektieren in der Supervision oder im Coaching

Achtsamkeit lehren – durch Haltung

Wichtig bleibt: Achtsamkeit lässt sich nicht „verordnen“. Sie entfaltet ihre Kraft dort, wo sie aus der eigenen Erfahrung kommt. Supervisorinnen und Coaches, die selbst in achtsamer Praxis geübt sind, strahlen diese Haltung aus – nicht als Technik, sondern als gelebte Präsenz. Klientinnen spüren, ob jemand im Moment präsent ist, ob er oder sie zugewandt ist, aufmerksam, wach. Insofern beginnt jede achtsame Praxis bei uns selbst – in der Art, wie wir sitzen, hören, sprechen, wie wir mit Spannung umgehen, mit Fehlern, mit Nichtwissen.

Eine systemische Haltung schließt Achtsamkeit implizit mit ein. Doch wer sie explizit kultiviert, kann das eigene professionelle Handeln vertiefen, verlangsamen, verfeinern. Nicht um mehr zu tun – sondern um bewusster zu sein.

3 Gedanken zu „Achtsamkeit in Coaching und Supervision – Impulse aus einer systemischen Perspektive

  • KW30/2025: Alle TCS-Blogartikel - The Content Society
    28. Juli 2025 um 05:51 Uhr

    […] Achtsamkeit in Coaching und Supervision – Impulse aus einer systemischen Perspektive […]

  • Michael Lahme
    28. Juli 2025 um 13:34 Uhr

    Hallo Anja, Vielen Dank für diesen ausgesprochen inspirierenden und tiefgründigen Artikel! Deine Gedanken zur Verbindung von Achtsamkeit und systemischem Arbeiten treffen genau meine eigene Einstellung und Erfahrung in der Praxis. Besonders wertvoll finde ich deine Betonung, dass Achtsamkeit nicht bloß Methode, sondern vor allem eine gelebte Haltung sein sollte. Genau darin liegt für mich die größte Kraft und nachhaltige Wirkung. Die Achtsamkeitsübungen finde ich auch wunderbar, da ich diese, in ähnlicher Form, gerne bei meinen Klienten anwende.Toll geschrieben und wunderbar auf den Punkt gebracht!

    • Anja Langner
      29. Juli 2025 um 18:10 Uhr

      Lieber Michael,
      Danke Dir für Deine Rückmeldung – das freut mich sehr. Besonders schön finde ich, dass Du die Haltung hinter der Achtsamkeit genauso wichtig findest wie ich. Und wie schön, dass Du die Übungen in ähnlicher Weise einsetzt – das verbindet.

      Viele Grüße
      Anja

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * gekennzeichnet.

*
*

BCF von aThemeArt – Mit Stolz präsentiert von WordPress.
NACH OBEN